Zum Hauptinhalt springen
Logo vom Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit und Site-Slogan: Aktiv für Gesundheit und Chancengleichheit (Link zur Startseite)

13.09.2023

Jung, prekär, stigmatisiert - und Sexuelle Gesundheit ist gerade nicht das Hauptproblem?

Angelika Wirtz, WIR Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin
Alaa Edin Abdin, Juwel Modellvorhaben
Adriane Skaletz-Rorowski, WIR Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin

Schlagwörter:Jugendhilfe, sexuelle Gesundheit, Jugendliche, Kultursensibilität, Gesundheitsförderung

Junge Menschen in prekären Lebenssituationen nehmen Angebote des Gesundheits- und Sozialsystems kaum in Anspruch. Beratung und Information zum Thema Sexuelle Gesundheit können nicht niedrigschwellig genug sein, um Jugendliche und junge Erwachsene in der Sexarbeit, in Wohnungslosigkeit oder mit Migrationserfahrung sicher zu erreichen. Diese und andere Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung des WIR, - Walk In Ruhr, Zentrum für Sexuelle Gesundheit & Medizin in Bochum aus dem Jahr 2020 münden in das Modellvorhaben Juwel. Juwel setzt ein eigens durch das WIR entwickeltes Präventionskonzept um, welches parallel auf Verhaltens- und Verhältnisebene wirkt. Der Fokus liegt dabei auf der Verhältnisprävention, denn für die Primärprävention gilt ein seine vulnerablen Gruppen stärkendes Umfeld als unerlässlich und wird auch verhaltenspräventive Wirkungen entfalten.

 

Juwel ist im Sommer 2021 mit ein paar Puzzlesteinen und dem Ziel gestartet, positive Sexualkultur in Settings zu fördern. Adressiert sind Settings, die wichtige Orte sind für junge Menschen in prekären Situationen und mit besonderen Lebensstilen. Hierzu zählen Organisationen der Jugendhilfe, Prostitutionsstätten, ambulante und behördliche Beratungsstellen.

Beide, wissenschaftliche Untersuchung und Modellvorhaben, sind in Zusammenarbeit mit dem Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Verband) vom WIR-Zentrum in Bochum durchgeführt. Die Arbeitsgruppe Prävention und Gesundheitsförderung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld evaluiert das Modellvorhaben. Nach Abschluss der fünfjährigen Modellphase soll ein übertragbares Programm zur Förderung organisationaler Sexualkultur entwickelt und erprobt sein, das deutschlandweit ausgerollt wird.

Juwel, mit dem Koffer an der Tür

Stellt man sich einmal bildlich vor, das Juwel-Team klopft unbekannterweise bei Settings an die Tür und offeriert als kostenloses Angebot, die hausinterne Sexualkultur positiver zu gestalten, - betreibt also waschechte Kalt-Akquise mit dem Angebot, ins Privateste einzudringen - sind unterschiedliche Reaktionen seitens der Besuchten leicht zu phantasieren.

Laden beispielsweise Fachkräfte aus sozialen Berufen Juwel in ihr Meeting ein, ist unter ihnen oft eine Person bereits sexualpädagogisch vorgebildet, die meisten anderen sind themenaffin und offen für das Angebot. Den mitgebrachten Juwel-Werkzeugkoffer mit sexualpädagogischen Materialien und Methoden aus der Organisationsentwicklung inspizieren die Fachkräfte erwartungsvoll.

Möchte Juwel eine Prostitutionsstätte besuchen und Menschen zur Kooperation gewinnen, die dort rund um die Sexarbeit tätig sind wie Bordellbetreibende, Thekenkräfte oder Wirtschafterinnen, kann bereits der Kontakt nicht so einfach über E-Mail oder Telefon angebahnt werden. Auch der Erklärungsbedarf ist hier ein anderer. Der Werkzeugkoffer bleibt oft erstmal zu, stattdessen öffnet das Team sein Kit mit den speziellen Juwel-Tools, darunter:

  • Gesprächskompetenz, die Achtung und Wertschätzung gegenüber der Branche vermittelt
  • Innere Haltung, die Menschen und ihre Arbeit würdigt
  • Kulturelle Kompetenz, die Tabus interkulturell zu unterscheiden weiß
  • Kommunikative Kompetenz, um Benefits zu betonen und Grenzen zu klären

Um Kooperationspartner*innen zu gewinnen greift Juwel auch auf das große Netzwerk des WIR-Zentrums und dessen Zugänge in teilweise hochsensible Lebenswelten zurück.

Juwel, in Settings unterwegs

Die Juwel-Intervention setzt den gesundheitsfördernden Settingansatz (auch: Lebensweltansatz) mit Fokus auf sexuelle Gesundheit um. Hierzu hat das Bochumer Team ein Konzept zur partizipativen Umsetzung der Juwel-Intervention entwickelt. Als wissenschaftliche Grundlage dienen aktuelle Forschungserkenntnisse der Sexualpädagogik, Sexualmedizin und -wissenschaft, der Arbeitswissenschaft und des Change-Managements, der Psychologie und der Schulentwicklung. Die Intervention ist durchgängig partizipativ angelegt, denn gerade bei hochsensiblen Themen und dem Ziel, organisationale Kultur zu entwickeln, ist die Mitgestaltung aller Beschäftigten und der Jugendlichen für den Erfolg unverzichtbar.

Inhaltlich greifen die Juwel-Angebote sexualpädagogische Bildung, Fachberatung und Vernetzung eng ineinander. Gestartet wird mit einer dreischrittigen partizipativen Entwicklung eines Curriculums (PCE I-III), welches speziell auf die Bedarfe der teilnehmenden Organisation angepasst ist. Während der gemeinsamen Arbeit mit den Fachkräften leitet Juwel dazu an, eine Innovation zu finden, also eine Idee zu formulieren und umzusetzen, welche die neu geschaffene Sexualkultur in der Organisation spiegelt und nachhaltig wirken kann. Der gesamte Prozess ist eingebettet in eine Strategie zur Motivation und gesundheitsfördernden Kommunikation.

Regelmäßige Vernetzungstreffen zu Spezialthemen wie beispielsweise `Trans* und Sexuelle Gesundheit´ oder `Sexuelle Gesundheit und Migration´ bringen teilnehmende und nicht-teilnehmende Organisationen mit regionalen Akteuren und Fachleuten an einen Tisch.

Zum Zweck der Partizipation derjenigen, die Juwel über die Fachebene hinaus erreichen will: die jungen Menschen selbst, ermittelt Juwel im Rahmen der PCE I-III die Perspektive der von der kooperierenden Organisation adressierten Jugendlichen. Ihre Sicht auf und ihre Bedarfe gegenüber ihrer Organisation fließen unmittelbar in die Curriculumsentwicklung ein. In Kooperationen mit Jugendhilfe-Organisationen lädt Juwel die zugehörigen Jugendlichen regelmäßig zu Workshops ein. Workshop-Formate sind an deren Bedarfe, Interessen und Möglichkeiten angepasst. Soft Skills des Juwel-Teams und ein buntes Portfolio jugendgerechter, sexualpädagogischer Methoden machen die Workshops zu lebendigen und gern besuchten Veranstaltungen. In freundlicher, wertschätzender Atmosphäre vermittelt Juwel den jungen Gästen Informationen und wertvolle Kompetenzen rund um Sexualität und Sexuelle Gesundheit. Beispielsweise erwerben die Jugendlichen neues Wissen über HIV-Ansteckungswege und die Kompetenz, ab jetzt zwischen Fakten und Mythen zu unterscheiden, wie auch die soziale Kompetenz, persönliche Grenzen zu kommunizieren und zu wahren. Aufmerksame Beteiligung und viele Fragen an das Team zeugen von erfreulichen Effekten der Juwel-Motivationsstrategie.

Angebote der Intervention sind in analogen und digitalen Formaten aufbereitet. Im Juwel-eigenen Bereich `Juniverse´ auf der digitalen Lehr- und Lernplattform `Gesundheit gestalten´ des PKV-Verbandes sind eigens entwickelte Materialien zur Vor- und Nachbereitung aller Juwel-Veranstaltungen dauerhaft verfügbar.

Juwel, selbst lernende Organisation

Erste Erkenntnisse können aus der Zusammenarbeit mit zwei großen Bochumer Organisationen der Jugendhilfe und insgesamt 450 Fachkräften gewonnen werden. Sie dienen einerseits zur Vereinfachung und Verbesserung der Entwicklung von Sexualkultur speziell in der Jugendhilfe, andererseits zur Verfeinerung der Juwel-Intervention selbst. Das Interventions-Konzept ist hochgradig dynamisch gestaltet, um in unterschiedlichen organisationalen Strukturen angewendet werden zu können und dabei sein Herzstück `Partizipation´ zu bewahren.

Interessierte Organisationen und Netzwerkpartner*innen sind herzlich eingeladen, sich bei der Projektleitung im Bochumer WIR-Zentrum zu melden.

Kontakt

PD Dr. Adriane Skaletz-Rorowski

WIR – Walk In Ruhr, Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin

adriane.skaletz-rorowski@klinikum-bochum.de

www.wirsindjuwel.de

www.wir-ruhr.de

Zurück zur Übersicht